1.4.05

Davon kann sich die SPEX noch 'ne Scheibe abschneiden

Man soll auch andere sprechen lassen, wenn einem selbst die Worte fehlen, gerade, wenn einem der Zufall in die Hände spielt. So wollte ich mich schon seit ein paar Tagen darüber auslassen, wie unmöglich hier das abendliche Bargehen ist, und gerade itzo, da einem ÜBERALL "Rich Girl" der unsäglichen Gwen Stefani entgegenstürmt "wie Ratten aus einem Äquadukt" (Das Leben des Brian). Gleichzeitig arbeite ich mich gerade durch meine uralt-Kassettensammlung, und grabe dabei manche Schätze aus. So auch heute morgen, ich war auf dem Weg zur Arbeit und hörte eine Kassette, die ich irgendwann in den 80ern aufgenommen haben muß, als man noch mit angehaltenem Atem vor dem Kassettenrekorder hockte, den Zeigefinger auf der Pausentaste fixiert.

(Nebenbei: mit solcherart nostalgischen, wohlfeilen "Hach ja, die 80er, was waren das noch für unschuldige Zeiten süßester Jugend" Allgemeinplatzobservation machen andere inzwischen ja schon ganze Bücher voll. Aber darüber hatte ich mich ja schon mal ausgelassen, und wir sind hier schließlich nicht in Banalien.)

Jedenfalls befand sich auf der Kassette ein kurzes Stück, in dem ein Schauspieler aus Heinrich Heines "Briefe aus Berlin" vorlas. Und so schön hätte ich das gar nicht ausdrücken können, also nehmen wir doch besser gleich das Original. Gleichen Sie im Folgenden also lediglich die entsprechenden Verweise meinen Gegebenheiten an (Berlin zu Sydney, Jungfernkranz zu Rich Girl etc.) und dann kommen wir meiner jetzigen Gefühlslage schon ziemlich nahe. Meine Damen und Herren, Heinrich Heine, mit einem der schönsten Stücke Musikkritik ever, anno 1822:

Haben Sie noch nicht Maria von Webers "Freischütz" gehört? Nein? Unglücklicher Mann! Aber haben Sie nicht wenigstens aus dieser Oper das "Lied der Brautjungfern" oder den "Jungfernkranz" gehört? Nein? Glücklicher Mann! Wenn Sie vom Hallischen nach dem Oranienburger Tore und vom Brandenburger nach dem Königstore, ja selbst wenn Sie vom Unterbaum nach dem Köpnicker Tore gehen, hören Sie jetzt immer und ewig dieselbe Melodie, das Lied aller Lieder: den "Jungfernkranz". Wie man in den Goethischen Elegien den armen Briten von dem "Marlborough s'en va-t-en guerre" durch alle Länder verfolgt sieht, so werde auch ich von morgens früh bis spät in die Nacht verfolgt durch das Lied:

Wir winden dir den Jungfernkranz
Mit veilchenblauer Seide;
Wir führen dich zu Spiel und Tanz,
Zu Lust und Hochzeitfreude.

Chor:

Schöner, schöner, schöner grüner Jungfernkranz,
Mit veilchenblauer Seide, mit veilchenblauer Seide!

Lavendel, Myrt' und Thymian,
Das wächst in meinem Garten.
Wie lange bleibt der Freiersmann,
Ich kann ihn kaum erwarten!

Chor:

Schöner, schöner, schöner usw.

Bin ich mit noch so guter Laune des Morgens aufgestanden, so wird doch gleich alle meine Heiterkeit fortgeärgert, wenn schon früh die Schuljugend, den "Jungfernkranz" zwitschernd, an meinem Fenster vorbeizieht. Es dauert keine Stunde, und die Tochter meiner Wirtin steht auf mit ihrem "Jungfernkranz". Ich höre meinen Barbier den "Jungfernkranz" die Treppe heraufsingen. Die kleine Wäscherin kommt "mit Lavendel, Myrt' und Thymian". So geht's fort. Mein Kopf dröhnt. Ich kann's nicht aushalten, eile aus dem Hause und werfe mich mit meinem Ärger in eine Droschke. Gut, daß ich durch das Rädergerassel nicht singen höre. Bei ***li steig ich ab. "Ist's Fräulein zu sprechen?" Der Diener läuft. "Ja." Die Türe fliegt auf. Die Holde sitzt am Pianoforte und empfängt mich mit einem süßen:

"Wo bleibt der schmucke Freiersmann,
Ich kann ihn kaum erwarten." -

"Sie singen wie ein Engel!" ruf ich mit krampfhafter Freundlichkeit. "Ich will noch einmal von vorne anfangen", lispelt die Gütige, und sie windet wieder ihren "Jungfernkranz" und windet und windet, bis ich selbst vor unsäglichen Qualen wie ein Wurm mich winde, bis ich vor Seelenangst ausrufe: "Hilf, Samiel!"
Sie müssen wissen, so heißt der böse Feind im "Freischützen"; der Jäger Kaspar, der sich ihm ergeben hat, ruft in jeder Not: "Hilf, Samiel!"; es wurde hier Mode, in komischer Bedrängnis diesen Ausruf zu gebrauchen, und Boucher hat einst sogar im Konzerte, als ihm eine Violinsaite sprang, laut ausgerufen: "Hilf, Samiel!"

Und Samiel hilft. Die bestürzte Donna hält plötzlich ein mit dem rädernden Gesange und lispelt: "Was fehlt Ihnen?" - "Es ist pures Entzücken", ächze ich mit forciertem Lächeln. "Sie sind krank", lispelte sie, "gehen Sie nach dem Tiergarten, genießen Sie das schene Wetter, und beschauen Sie die schene Welt." Ich greife nach Hut und Stock, küsse der Gnädigen die gnädige Hand, werfe ihr noch einen schmachtenden Passionsblick zu, stürze zur Tür hinaus, steige wieder in die erste beste Droschke und rolle nach dem Brandenburger Tore. Ich steige aus und laufe hinein in den Tiergarten.

(snip)

Aber jenes leuchtende, majestätische Frauenbild, das, mit einem buntglänzenden Gefolge, auf hohem Rosse [im Tiergarten an mir]vorbeifliegt, das ist unsre -Alexandrine. Im braunen, festanliegenden Reitkleide, ein runder Hut mit Federn auf dem Haupte und eine Gerte in der Hand, gleicht sie jenen ritterlichen Frauengestalten, die uns aus dem Zauberspiegel alter Märchen so lieblich entgegenleuchten und wovon wir nicht entscheiden können, ob sie Heiligenbilder sind oder Amazonen. Ich glaube, der Anblick dieser reinen Züge hat mich besser gemacht; andächtige Gefühle durchschauern mich, ich höre Engelstimmen, unsichtbare Friedenspalmen fächeln, in meine Seele steigt ein großer Hymnus - da erklirren plötzlich schnarrende Harfensaiten, und eine Alteweiberstimme quäkt: "Wir winden dir den Jungfernkranz" usw.

Und nun den ganzen Tag verläßt mich nicht das vermaledeite Lied. Die schönsten Momente verbittert es mir. Sogar wenn ich bei Tisch sitze, wird es mir vom Sänger Heinsius als Dessert vorgedudelt. Den ganzen Nachmittag werde ich mit "veilchenblauer Seide" gewürgt. Dort wird der "Jungfernkranz" von einem Lahmen abgeorgelt, hier wird er von einem Blinden heruntergefiedelt. Am Abend geht der Spuk erst recht los. Das ist ein Flöten und ein Grölen und ein Fistulieren und ein Gurgeln, und immer die alte Melodie. Das Kasparlied und der Jägerchor wird wohl dann und wann von einem illuminierten Studenten oder Fähndrich zur Abwechselung in das Gesumme hineingebrüllt, aber der "Jungfernkranz" ist permanent; wenn der eine ihn beendigt hat, fängt ihn der andere wieder von vorn an; aus allen Häusern klingt er mir entgegen; jeder pfeift ihn mit eigenen Variationen; ja, ich glaube fast, die Hunde auf der Straße bellen ihn.

Wie ein zu Tode gehetzter Rehbock lege ich abends mein Haupt auf den Schoß der schönsten Borussin; sie streichelt mir zärtlich das borstige Haar, lispelt mir ins Ohr: "Ich liebe dir, und deine Lawise wird dich ooch immer jut sind", und sie streichelt und hätschelt so lange, bis sie glaubt, daß ich am Einschlummern sei, und sie ergreift leise die "Katharre" und spielt und singt die "Kravatte" aus "Tankred": "Nach soviel Leiden", und ich ruhe aus nach so vielen Leiden, und liebe Bilder und Töne umgaukeln mich - da weckt's mich wieder gewaltsam aus meinen Träumen, und die Unglückselige singt: "Wir winden dir den Jungfernkranz -"

In wahnsinniger Verzweiflung reiße ich mich los aus der lieblichsten Umarmung, eile die enge Treppe hinunter, fliege wie ein Sturmwind nach Hause, werfe mich knirschend ins Bett, höre noch die alte Köchin mit ihrem Jungfernkranze herumtrippeln und hülle
mich tiefer in die Decke. Sie begreifen jetzt, mein Lieber, warum ich Sie einen glücklichen Mann nannte, wenn Sie jenes Lied noch nicht gehört haben.


Ein Flöten und ein Grölen und ein Fistulieren und ein Gurgeln, in der Tat.

(Text kopiert von Articulate - merci!)