22.6.04

Gegen die hochdekorierte Wand des State Theatre

Es ist gerade Sydney Film Festival, und weil man nix Besseres zu tun hat, rennt man alle naselang ins Kino. Nothing aus Kanada (schrullig-verspielt), Maria Full of Grace aus Kolumbien (drogenschmugglerisch) oder die RAMONES Doku End of the Century (Gabba Gabba Hey). Aber mein persönlicher must-see, unbedingt hin, Menschen für Tickets überfallen falls ausverkauft-Film war Gegen die Wand. Und zwar aus vielerlei Gründen: Fatih Akin ist der beste deutsche Filmemacher der Gegenwart (und die Tatsache, daß er dezidiert deutsch-türkische Filme macht, könnte damit zu tun haben...), das bis nach Sydney hörbare Rauschen des deutschen Blätterwaldes betreffs Sibel Kekilli (siehe auch hier) und ab und an bestell ich mir ja mal gerne 'n Paar Hamburg City Rules! im Lokal Kolorit. Kurz: darauf freute ich mich schon seit Wochen.

Also ab vorgestern zur Matinee ins State Theatre, dem glorreichen Gotik/Art Deco Haufen an der Market Street. Und in dieser kolonialen Opulenz, umzingelt vom cinephilen Mittelstand Sydneys, guckte ich dann eine Geschichte durchtränkt von Sex, Drogen, Gewalt, Selbsthaß und würdevollem Wiederaufrappeln gegen alle Chancen. Gegen die Wand ist nicht einfach ein Film aus Hamburg, oder ein Hamburger Film - Gegen die Wand IST Hamburg, jedenfalls für mich in meiner jetzigen Situation. Jedesmal, wenn das Wort "Dicker" fiel, wurde mir die Kehle vor Heimweh eng und ich hörte meine Oma nachhallen, wie sie meine Mutter am Telefon mit "Na Dicke?" begrüßt. Von den locations, dem St Pauli-Kapuzi in einer Szene und der Tatsache, daß mein Bruder in einer Nachtclubszene das Licht gemacht hat, mal ganz abgesehen.

Jedenfalls ein ganz großer Film, mit Sicherheit einer meiner Top 3 deutschen Filme der letzten Jahrzehnte. Was allerdings beunruhigend war für mich war die Diskrepanz zwischen meiner Melancholie und den objektiven Realitäten. Will sagen: Cahits Wohnung, obschon in Altona gelegen, sah in ihrer chaotisch-verwahrlosten Energie meiner damaligen Barmbeker Dachklappe verdammt ähnlich (manchmal jedenfalls), und der, wie man so schön sagt, "Lebenswandel" des damaligen proto-sydneysniders wies auch einige Parallelen zum Film auf. Obwohl ich beklagenswerterweise nie alles verschlingenden Sex mit Catrin Striebeck hatte, und Schnee für mich auch nie auf Metaphernebene funktionierte, sondern nur zum Schlittenfahren.

Da fragt man sich dann schon: was für einen Schatten muß man eigentlich haben, um sich nach sowas zurückzusehnen?? Will man das wirklich wiederhaben, die durchmachten Nächte, die ebenso intensiven wie desaströsen Beziehungen, das gegenseitige Therapieren an Kneipentischen während Deutschland von draußen mit grauen Fingernägeln an der Fensterscheibe kratzt? Das sich Aneinanderklammern im Mahlstrom der Zeit? Will man wirklich wieder, daß der Kippschalter der eigenen Sensibilität immer auf AN steht, stehen muß damit man in der Gesellschaft funktionieren kann? Oder, um im Bildnis des Films zu bleiben: will man wirklich wieder sehend gegen die Wand?

Oder doch viel eher ignorant und behende um die Wand herum, wie die mich umgebenden Filmgänger, die bei jeder halbwegs brutalen, blutigen wie unblutigen Szene leise bis laut aufstöhnten? Viele konnten nicht an sich halten und gaben ihrem Unwohlsein laut Ausdruck mittels "Oh no!" und sonstigen Schreckenslauten. Warum nicht so sein wie die und teilhaben am naiven Australien, der Mittelstandsgesellschaft par excellence, wo die Sonne gestern schien, heute scheint und morgen scheinen wird? Wo alles "No worries, mate" ist und irgendwie alles gut werden wird -"she'll be right"? Wo nichts wirklich wichtig genug ist, um sich darüber aufregen zu müssen, wo emotionale Tiefe das Vergießen einiger Krokodilstränen beim Entzünden des olympischen Feuers durch Cathy Freeman ist?

Hmmm...