24.11.05

DAS kann man essen?? Der Beginn einer kleinen Serie - Teil 1

Lyssas Beitrag über's mittägliche Hirnessen und die darauffolgende Diskussion über eher abseitige lukullische Leckereien lassen mich nicht ruhen. Im Laufe der Jahre habe schließlich auch ich reichlich, wie mein Bruder mir immer wieder vorhält, "Ekelzeugs" und "Glibberkram" gekostet. Darum gibt's in den nächsten Tagen also eine launige Serie über's Essen. Großartige Einsichten ins Kochen und Genießen und in die feineren Kochkünste wie z.B. bei Herr Paulsen würde ich an Eurer Stelle jetzt nicht erwarten. Ich bin keineswegs ein Gourmet, lediglich omnivor veranlagt. Über die bizarren Sachen, die Menschen aller Kulturen so mir nichts dir nichts in sich reinschaufeln, hab' ich mir sowieso in den verschiedenen Ländern, deren Küchen sich glücklich schätzen durften, mich zum Gast zu haben, schon Gedanken gemacht. Aber heute fangen wir mal in der grauen Vorvergangenheit an:

Berchtesgadener Kalbsbrann

Anfang der Neunziger. Unsere Abi-Abschlußfahrt führte uns, of all places, nach Berchtesgaden, denn richtiges Ausland, wie mein Tutor sagte, konnten wir uns nicht leisten. Ich sollte hier vielleicht anmerken, daß ich in einem der berühmten "sozialen Brennpunkte" aufgewachsen und zur Schule gegangen bin. Meine Alma Mater erreichte in den späten Achtzigern einmal für kurze Zeit bundesweite Beachtung, als Der Spiegel mein Gymnasium als das schlechteste Gymnasium Deutschlands outete. Ganz daneben lag er auch nicht, wie wir selber freimütig zugeben mußten. Hamburg war damals ja offiziell das dümmste Bundesland (ganz anders als z.B. die schwäbischen Schlaumichel) was das Schulwesen anging, und innerhalb Hamburgs war unsere Schule... naja. Beim Schachturnier "Linkes Alsterufer gegen rechtes Alsterufer" z.B. wurde unsere heldenmütig ringende Schach-AG recht regelmäßig lang und schmutzig von den Lacostejüngern aus Blankenese u.ä. abgezogen. Einmal wurden wir sogar disqualifiziert, als einige von uns das heldenmütige Ringen zu wörtlich nahmen. Meine Mutter nahm mich hinterher beiseite und ins Gebet und erklärte mir den Unterschied zwischen "jemanden im Schach schlagen" und "jemanden beim Schach schlagen". Im Fußball hingegen waren wir gut und gefürchtet, nicht zuletzt wegen unserer brettharten Innenverteidigung - und der Tatsache, daß wir, im Gegensatz zu den bessergestellten Schulen des Hamburger Speckgürtels, welche unsere Gegner in der Oststaffel stellten, ein gehöriges Aggressionspotential polnischer, türkischer und proletarischer Provenienz in unseren Reihen vereinigten. Hart, aber fair, so sahen wir uns. Dreckiges Geschmeiß in den Augen der anderen. Mein Schulkamerad Ö. ist immer noch sprichwörtlich in diesem Teil Hamburgs wegen seiner eingesprungenen Blutgrätschen.

Ach ja, Abifahrt. Wir waren untergekommen in der Berchtesgadener Jugendherberge. Einzige Gäste außer uns: eine Abiturklasse aus den Walddörfern. Obschon wir, darauf lege ich immer noch Wert, keinesfalls unhöflich oder gar grob im Umgang waren, hatten uns die Walddörfer relativ schnell auf ihre kulturelle Apartheidsliste gesetzt. Will sagen: die Walddörfer Lehrer gaben uns zu verstehen, daß man auch in den Walddörfern sehr wohl Der Spiegel lese und wir ihren Schützlingen bloß nicht zu nahe treten sollten. Was K., unseren verwegenen und bereits zweimal sitzengebliebenen Stufenromeo, nicht davon abhielt, sich ruhig und methodisch durch die ob soviel authentischer rough trade-Romantik natürlich begeisterten Walddörfer Abiturientinnenreihen zu vögeln. (Niemand von uns hatte das Herz, den dermaßen dahinschmelzenden Damen zu erzählen, daß K.s Vater Finanzbeamter war und K. ein leidenschaftlicher Star Wars Fan.)

Mittagessen gab's immer im Eßsaal der JH, beide Gruppen beieinander. An unserem vorletzten Tag unternahmen wir einen Ausflug nach München. Wir gingen in einer kleinen Gruppe zum Viktualienmarkt und da lag es: ein Gehirn. Zum Verkauf. Der nette Marktmensch klärte uns auf, dies sei ein Kalbshirn und man würde damit Kalbsbrann zubereiten - "Oafach poniern und brotn, schmeckt sauguat!". Also kauften wir das Gehirn, bekamen es in einer weißen Plastiktüte überreicht und verstauten es bis zum nächsten Tag in D.s Rucksack. Es wabbelte und glibberte und glibschte in der Tüte herum.

Der letzte Tag. Wir hatten inzwischen die Nase gestrichen voll von den Walddörfern und ihrem Gehabe und Rache geschworen. Es gab Hühnerfrikassee. D., die coole Sau, hatte das Kalbsgehirn mit reingeschmuggelt und legte es vorsichtig und ohne daß die am Nebentisch spachtelnden Walddörfer es mitbekamen auf seinen Teller. Er drapierte etwas Frikassee drumherum. Dann sprang er wie von der Tarantel gestochen auf und rief: "IIIIHHHHUUUÄRGH!!! Ich hab' was in meinem Frikassee!!" Er griff sich den Teller und ging langsam an den Walddörfern vorbei, so daß auch wirklich jeder einen guten Blick auf das rosagraue Gewackel werfen konnte. Einige Walddörfer wurden bleich, andere piekten fieberhaft in ihrem Frikassee herum, Gabeln an ausgestreckten Armen, Finger gespreizt, auf der Suche nach Kalbshirn. Unsere kleine Viktualienmarktgruppe konnte inzwischen nicht mehr vor unterdrücktem Lachen und marschierte hinter D. her zur Essensausgabe. D. knallte den Teller auf den Tresen und meinte laut zu dem diensthabenden Koch/Zivi: "Sach ma Digger, muß das sein? Guck ma, was ich in meinem Essen gefunden hab! Das is nich ganz durch!!". Der Zivi jedoch, noch cooler, musterte uns kurz und meinte nur: "Ach, da ist das. Hatte ich schon vermißt." Nahm den Teller und drehte sich um. Wir zum Tisch zurück, vorbei an den immer noch geschockten Walddörfern, die ohne Ausnahme aufgehört hatten zu essen, mit breiten Schultern, Gott, waren wir gut. Denen hatten wir's gezeigt. Schwachmaten.

Ahnt irgendjemand jetzt nicht, wo das hier hinführt? Na klar: 5 Minuten später stand der Zivi am Tisch. Mit frischgebratenem Kalbsbrann in Scheiben. Musterte uns, grinste, legte jedem Viktualienbruder mit großer Zeremonie eine Scheibe auf den Teller und sagte: "Hier ist euer Kalbsbrann. Jetzt ist er durch. Wohl bekomm's!"

Scheiße. Die Walddörfer musterten uns äußerst interessiert und nun war es an ihnen, ein Lachen zu unterdrücken. Auch unsere StufenkollegInnen (wir waren nicht allen freundlich gesinnt und sie uns noch weniger) grienten sich einen. Was sollten wir machen? Wir hatten eine irgendwie nebulöse Ehre zu verteidigen. Also ran an den Bregen, mit Messer und Gabel und Gottvertrauen - was einem Atheisten wie mir auf einmal überraschend leicht fiel.

Nun ja. Wir aßen alles auf. Wie auch nicht - was wir im Falle eines Rückziehers von den Walddörfern hätten schlucken müssen, wäre um ein Vielfaches schlimmer gewesen. Es war nicht das Schlechteste, was ich je gegessen habe, aber so unbedingt muß ich Kalbshirn jetzt auch nicht mehr haben. Schmeckt irgendwie nicht wie Hühnchen.