15.6.04

Zidane zum Frühstück

Verdammte Zeitverschiebung. Es ist morgens um 4, der Wecker klingelt und ich schmeiß' mich in notdürftigste Schale - dicker Pulli, Wollmütze, Winterjacke. Auf Zehenspitzen verlasse ich die Wohnung, denn man will schließlich die liebende Partnerin und, viel wichtiger für das Bewahren des Hausfriedens in unserem Block, unseren extrem extrovertierten Hooligankater nicht aufwecken. Draußen sind gefühlte 4 Grad, es ist Winter. Schon komisch, wie Müdigkeit einem ungefähr 10 Grade klauen kann.

Ich starte den Wagen und wir husten eine Weile asthmatisch um die Wette. Da ich versprochen habe, im Auto nicht zu rauchen, muß die erste Zigarette noch warten. Die Kassette, die ich aus meiner speziell angelegten HALLO WACH!! Kollektion gegriffen habe, wird flugs eingelegt, und das gutturale Grunzen der Liverpooler CARCASS reißt mir die Augen etwas weiter auf. Und so fahr' ich dezent headbangend gen Earlwood, zu J. Denn die Europameisterschaft gibt's hier nur im Bezahlfernsehen, bei Rupert Murdochs Propagandamaschine FOX, bzw. derem Leibesübungsarm FOX SPORTS. Ich hab' kein FOX, alle Kneipen in der näheren Umgebung haben zwar FOX aber leider auch morgens um 4 zu, und so muß Freund J. als Zufluchtsort für Fußballinteressierte herhalten.

Viel surrealer kann man nicht Autofahren: eine halbe Stunde dauert's nach Earlwood, und außer mir sind nur ein paar versprengte Wagen auf den Straßen, zweifellos gesteuert von Nachtwächtern, Polizisten und sonstigen Triebtätern, deren schlechtes Gewissen und/oder Schichtplan sie nicht schlafen läßt. Dazu dann noch der allerdings selbstgewählte Soundtrack zu Untergang, Tod, Verwesung und dem Scheißsystem, und ich fühl' mich wie der letzte Überlebende einer unsagbaren Katastrophe - vielleicht einer tödlichen Virusepidemie, oder eines Nuklearunfalls; niemand hat überlebt, nur Nachtwächter, Polizisten, Triebtäter und ein verschlafener Fußballfan, der durch die verlassenen Straßen braust und verstört blinzelt.

Bei J. angekommen, verflüchtigen sich solcherart Phantasien allerdings ganz schnell. Der Fernseher glimmt freundlich als Lagerfeuerersatz und kalte Finger schließen sich um heiße Kaffee- und Teebecher. Die Vereinten Nationen meines Bekanntenkreises sind auch schon da, und so gucken wir dann zu, wie der ureigene und zumindest für den Moment verschmähte Kulturkreis bei portugiesischem Sonnenschein gegen den Ball tritt. Nachts um 3 und dann morgens um 5. Mit einer Tasse Tee und, wenn sich jemand erbarmt, dem Rest der faulen Bande eine Freude zu machen, mit Rühreiern auf Toast.

Das kann Gott mit Fußballgucken eigentlich auch nicht gemeint haben. Wo sind die Chips? Wo das Bier? Und dann trifft Zidane in der Nachspielzeit zweimal, und alles ist gut. Morgen früh geht's weiter: Deutschland gegen Holland, live morgens um viertel vor Fünf, bei Schwarztee und Rühreiern. Die NAPALM DEATH Kassette liegt schon bereit.