4.5.04

Der warme Mief der Gruppe

Das frag' ich mich echt inzwischen seit ein paar Jahren: warum emigrieren so wenig "linke" Deutsche? Warum trifft man die antinationale deutsche Linke so selten außerhalb der eigenen Nation? Warum leben die meisten Antideutschen in Deutschland? Warum lümmeln sich junge Menschen mit "Scheiß auf Deutschland" T-shirtslogans in deutschen Fußgängerzonen?

Und natürlich die Kehrseite dieser speziellen Medaille: warum nörgeln die meisten der Deutschen, die man hier so trifft, permanent rum, daß X, Y oder Z nicht so sei wie in Deutschland? Warum vermitteln so viele Emigranten den Eindruck, am liebsten gar nicht emigriert zu haben? Und warum hängen hier so viele ausgewanderte Deutsche mit anderen ausgewanderten Deutschen an deutschen Stammtischen in deutschen Restaurants rum? Wie mein Bruder immer sagt: "Hä?"

Das müßte mir echt mal jemand beibiegen. Was das Politische angeht, ist Realogrün das radikalste, was mir in knapp 6 1/2 Jahren Exilantentum in England und Australien bei kennengelernten Deutschen untergekommen ist. Da liegt die Schlußfolgerung nun mal nicht fern, daß vielen "Deutschland muß sterben" - Maulhelden das nationale Hemd näher ist als die Hose der eigenen Überzeugung - welche sich möglicherweise in letzter Konzequenz als etwas eng herausstellen könnte . Will sagen, und das mein' ich jetzt gar nicht polemisch sondern eher verblüfft-sinnierend: den meisten ist Deutschland halt doch gar nicht so unlieb. Tief innendrin fühlt man sich zwischen ARD-Jeckenparade und Gelsenkirchener Barock vielleicht doch ganz wohl. Man spricht die Sprache, wirtschaftlich geht's einem eigentlich ganz gut, alle Freunde sind da... Man sollte dieses Gefühl der Behaglichkeit vielleicht nicht unterschätzen.

Und wie könnte es auch nicht verlockend sein, alles sofort und blind verstehen zu können? Hin und wieder sehnt man sich zurück nach einem einfachen Leben, in das man paßt wie ein fehlendes Puzzleteil. Und vielleicht geht's vielen ja auch so wie mir in melancholischen Momenten: Deutschland ist zwar Scheiße, aber wenigstens kennt man seine Feinde in- und auswendig. Andererseits: warum versuchen es viele nicht mal?

Erklärungen gibt's wahrscheinlich zuhauf, und viele sind sicherlich sehr sinnig - familiäre Gründe, finanzielle, persönliche... darüber werd' ich nun wirklich nicht zu Gericht sitzen, sondern einfach feststellen, daß es fast keine linken Deutsche gibt, die im Ausland leben. Selbst wenn man das spezifisch deutsche, zerrissene und zurecht schwierige Verhältnis zur eigenen Gesellschaft betrachtet, mutet das zumindest etwas merkwürdig an.

All dies führt zum Paradoxon, daß die tatsächlich im Ausland lebenden Deutschen, also diejenigen, die in vielerlei Hinsicht das Diktum "Deutschland halt's Maul!" tatsächlich leben, ja eigentlich alle links von sich nur noch die Wand haben müßten (wenn man die abzieht, die nur zeitweilig oder des Jobs wegen der Heimat entsagen müssen), oder? Weit gefehlt, jedenfalls meiner Erfahrung nach.

Hauptthema vieler dieser "Heimat im Herzen" Gestalten scheint zu sein, daß es im Nicht-Deutschland viiiieel zu wenig Deutschland gibt - Brot nicht so knusprig, Bier nicht so würzig, Busse nicht so pünktlich... Wertkonservativ wär' da noch geschmeichelt, mal ganz davon abgesehen, daß ich auch einigen begegnet bin, denen Deutschland "zu voll mit Ausländern" geworden ist (von Rassisten intellektuelle Kohärenz zu erwarten, ist wohl auch zuviel verlangt). Ein nicht versiegen wollender Strom immerwährender Nörgeleien, während sie sich ihre niegelnagelneue "Alles Schlampen außer Deutschland" Tätowierung verpassen.

Auch das macht es so schwierig, Nichtdeutschen Deutschland zu erklären: die Leute, die Deutschland nicht so gut finden, leben in Deutschland, wohingegen die, die nicht dort leben, Deutschland ganz Klasse finden. Letztere sitzen dann im Kino vor mir bei "Das Wunder von Bern" und fauchen mich an, weil ich den großen deutschen Sieg nicht angemessen bejubele. Dann geht doch nach drüben!