18.11.03

Punk am Strand, oder: Scheiß auf Heidegger - THE LIVING END und THE CASANOVAS, 15/11/2003, SELINAS (COOGEE BAY HOTEL)

Ein Abend wie Malen nach Zahlen. Manchmal können Klischees nicht nur stimmig, sondern auch richtig klasse sein. Aber von vorne:

Neuseeland verlor gegen Australien im Halbfinale der Rugby WM, die liebende Partnerin schob verletzten Nationalstolz und erging sich in einer ausführlichen fernmündlichen Obduktion der Leiche, die da neuseeländisches Rugby heißt, mit diversen Familienmitgliedern. Ich hingegen setzte Segel, und zwar zum Coogee Bay Hotel, genauer gesagt SELINAS, dem live Schuppen hinter der Hauptkneipe. Jahrelang so dicht wie normalerweise alle Kneipengäste des CBH, hat Selinas endlich wieder als live venue aufgemacht, und bei gemessenen 10 Minuten Fußweg ohne Rückenwind Tür zu Tür, konnte ich mir The Living End nicht entgehen lassen.

(Am Rande: das CBH wird auch, unter Anlehnung an den englischen Begriff der "Schweren Körperverletzung" - grievous bodily harm - von Freunden und mir gerne GBH genannt. Regelmäße Schlägereien und Polizeieinsätze sind zwar nicht nett, aber Zeugnis der etwas, sagen wir mal, bodenständigeren Bevökerungsstruktur Coogees, und wohl auch ein Grund der Coogee davor bewahrt, ein Yuppie- und Touristenghetto wie Bondi zu werden. Samstagabends jedenfalls ist's regelmäßig wie ein Video zum neuesten Stimmungshit der großartigen BLOOD DUSTER, der da "Drink, Fight, Fuck" heißt. Klammer zu).

Zuerst die Casanovas aus Melbourne, die laut Musikpresse so ca. die 167. Band der letzten 2 Jahre sein müßte, die den Rock und den Roll neu erfunden hat. Gerade von einer Europatour mit NZ's own rock pigs The Datsuns zurückgekehrt, gab's Baß, Gitarre, Schlagzeug und, Heidewitzka, AC/DC für die, die die Originale nicht kennen. Lieder für Menschen mit dicken Autos und/oder Eiern (resp. natürlich Eierstöcken). Kann man sich anhören, aber so richtig dolle ist das nicht; da paßte es dann auch ganz gut, daß "Riff Raff" von Acca Dacca fast noch der beste Song war. Mußte nicht sein - hätt' ich Männer mit chronischem Samenstau röhren sehen wollen, wär' ich zum Rugby gegangen.

Living End waren dann hingegen ziemlich Klasse, obwohl eben Klischee - es wartet ja eh jeder, bis der Stehbaß quasi bestiegen wird und im, na, eben Stehen gespielt wird. Wie die Goldenen Zitronen schon sagten: Das ist Rock! Die neue Scheibe Modern ARTillery kommt auch gut, und spielen können die drei eh. Dazu alte Knaller ("Prisoner of Society" wurde besonders begeistert aufgenommen, "West End Riot" und "Roll On" auch) und eine begeisterte Menge, und fertig war der gelungene Abend vor der eigenen Haustür.

Aber viel interessanter war ja das Publikum: heute Abend war's wieder richtig schön, in Sydney zu leben. So sehr ich mich auch beschwere ab und an, daß es keine interessante Subkultur gibt, und man polemischerweise auch anmerken könnte, daß ein Joghurt mehr Kultur besitzt als Sydney (Miau! Schälchen Milch, Tisch 1!) - an Abenden wie diesem wird einem gewahr, warum das u.a. so ist.

[Soziologengewäsch an] Durch den extrem inklusiven Charakter des australischen mainstreams wird eine Cliquenbildung quasi ad hoc verunmöglicht, da evtl. vorhandene subjektive auto-Abgrenzungsmechanismen schnell als blöde Wichtigtuerei und schnöde Elitenbildung abgelehnt werden. [Soziologengewäsch aus]

Kurz: den ganzen Schmonzes der klassenlosen australischen Gesellschaft darf man natürlich nicht glauben, und dieses herzzerreißend oft hingeblökte "I am - you are - we are - AUSTRALIAN" ist auch der letzte Mist. Aber das ist ein anderes Thema; jedenfalls seh' ich dieser ganzen Sache normalerweise mit Mißtrauen ins trübe Nationalistenauge. Aber was soll's, Living End rockten, 'n paar Bierchen öffnen den eingefahrenen europäischen Geist und here goes:

Genau das will man doch eigentlich, oder? Einfach nur in angenehmer Athmosphäre nett zu Mitmenschen sein, und zwar allen, die da anwesend waren: junge aufgedonnerte Mädchen in Abendkleidern, Rockabillies, Popper, Punks, Altrocker, Normalos, Surfer, Skater, Rugbyfans etcetcetc. Ich fang' jetzt nicht wieder mit den ca. 45 unterschiedlichen ethnischen Wurzeln oder Kulturkreisen des Publikums an - ein stinknormales Living End Konzert, und unter den Anwesenden mehr Diversität als bei den größten Festivals Europas. Da scheiß ich doch auf Kunst und Dichtung und Heidegger und Brahms und Diskussionskultur. Hauptsache, wir können alle irgendwie einfach Freunde sein, Du.

Im Ernst: nicht ein blöder Spruch der in Europa so gerne genommenen Cliquenmarke "Wie sieht der/die denn aus?" Keine herablassenden Bemerkungen, pikierte Blicke und die ganze andere Unentspanntheit. Wenn die EU tatsächlich mal erfolgreich sein sollte (und nicht geprägt von ständigem Mißtrauen gegenüber anderen Kulturen wie im Moment), dann wird es vielleicht auch in Europa so entspannt einhergehen wie beim Living End Konzert in Sydney. Leben und Lebenlassen, und nicht andauernd auf Unterschieden rumhacken wie auf einem tiefgefrorenen Acker.