10.9.03

Tempus Fuckit - Hätte hätte Herr'ntoilette

Ist man mit 31 als nicht-Buchhalter eigenlich zu jung zum Bilanzziehen? So man nicht ein obszön überbezahlter Sport- oder Popstar ist, noch eine irgendwie geartete Koryphäe auf irgendeinem Gebiet und sich somit nicht schon mit 30 die erste Autobiografie verdient hat, welche dann auch folgerichtig 6 Monate nach dem Erscheinen auf dem Fischmarkt zum Krabbeneinwickeln benutzt werden würde? Darf man sich mit 31 schon behaglich im metaphorischen Schaukelstuhl räkeln und die was-wäre-eigentlich-gewesen-wenn Maschine anschmeißen? Ist das nicht irgendwie ekelig altklug? So ganz spezifisch Ich-bezogen jetzt, Du? Und überhaupt geklaut von Lola Rennt und Sliding Doors??

Schon möglich, aber völlig egal. Ab und an kommen halt die Introspektionsinspektoren vorbei, halten einem ihre Lizenz zum Sinnieren unter die hohe Nase und fordern leutselige Melancholie. Und so gibt man den Inspektoren, was der Inspektoren ist:

Was wäre eigentlich gewesen, hätte man sich damals nicht zu dieser Party begeben, als an der Lutterothstraße alles seinen Anfang nahm? Vermutlich wäre man in HH geblieben, vielleicht sogar in derselben Wohnung in Barmbek (zu jenen Menschen, welche ihre Wohnungen wechseln wie andere Leute die Straßenseite, gehörte ich nie). Man hätte sich vermutlich damit arrangiert, in einem Land zu leben, in dem Menschen rüde sind, und Rüden Menschen (ich sage nur Kommissar Rex). Vielleicht hätte man so weitergemacht wie immer und würde jetzt ein bequemes Leben irgendwo in HH führen. Alles wäre so seinen Gang gegangen und man hätte die ruhige Kugel geschoben, bergauf, bergab.

Andererseits: vielleicht wär man ja auch durchgeknallt und hätte sich, fertig mit der bösen Welt und ihren fiesen Spießern, als Kommunarde irgendwo auf's Land begeben und die nächsten Jahre als Spessarthippy freilaufende Kühe gemolken. Oder man wäre wieder nach England gegangen - Sheffield und Manchester, Spaziergänge im Peak District an Sonntagen und der local als Extension des Wohnzimmers; mushy peas und Parkplatzschlägereien nach Kneipenschluß.

Und wie wäre das eigentlich gewesen, wenn das mit der Beziehung nicht hingehauen hätte hier? Wäre man geblieben oder wäre man gegangen, um The Clash zu bemühen? In irgendeinem alternativen Universum treckt ein Sydneysnider durch die Nullarbor, auf der Suche nach sich selbst und doch immer nur von road trains eliminierte, pfannkuchenplatte Beuteltiere findend, ständig die eigene Beziehungsunfähigkeit verfluchend. Im AL UN II steht ein Sydneysnider in einer Hamburger Bar und versucht, die Enttäuschung der fehlgegangenen Emigration wegzuspülen. Er klammert sich an einem Brief der Speditionsfirma YOUR SHITE WORLDWIDE fest, welcher in Speditionskaufleuteesperanto mitteilt, daß die verschifften Platten, Bücher und Klamotten leider vor Madagaskar lagen, die Pest an Bord hatten und notversenkt werden mußten. Der Ton des Briefes ist das Nüchternste in der ganzen Bar.

Andererseits: vielleicht wäre man ja auch in Sydney geblieben, hätte jegliche noch gebliebenen Prinzipien verbuddelt, sich den hiesigen Gegebenheiten so weit wie möglich angepaßt und Geld seine Welt regieren lassen (und jetzt mal im Ernst: schlechter als Howard hätte Geld auch nicht regiert) - Job in der City, neues Auto, Trophäenweibchen und Urlaub auf Tahiti. Luftküßchen bei Begrüßung ("Hello darling! Mwah! Mwah!"), Luftblasen beim Networken und Kontakte knüpfen und Golfspielen und Rotwein trinken.

Die Zeit ist verflogen. Fast 5 Jahre schon hier (5 Jahre!! Fünf !!!), und immer noch keinen Plan, wo das alles mal hingehen soll. Wie auch, wenn in 107 alternativen Universen schon alles getan wurde, was zu tun war, und man sich zufällig in diesem hier wiederfindet. Hätte man sich anders entscheiden sollen... oder können? Fuck it. Wie mein Bruder und ich immer sagen: Hätte hätte Herr'ntoilette.