1.8.03

Rohes Fleisch macht Musik - ROLLINS BAND playing the music of BLACK FLAG, 26/07/2003, METRO

Soo, nachdem sich die morschen Knochen wieder eingerenkt haben, die Stimme zurückgekehrt ist, der verstauchte rechte Daumen nicht mehr staucht und der blaue Fleck auf dem Oberarm, der bis vorgestern noch seine eigene Postleitzahl hatte, sich auch wieder auf ins Subkutane gemacht hat, findet man endlich Zeit und Muße, darzulegen, wie das so war, als die ROLLINS BAND letzten Samstag BLACK FLAG Songs spielten, und man sich achselzuckend eingestehen mußte, daß, um mit ...BUT ALIVE zu sprechen, irgendwas immer 16 bleiben wird. Und das ging so...

Aah, die METRO an einem Samstagabend. Ein Saal ähnlich der Markthalle, im ersten Stock in der George Street gelegen, darunter eine Spielhalle, genau mittig der molochartigen GREATER UNION und HOYTS Kinokettenwabe gegenüber, welche Vorstadtdronen wochenends anlockt wie eine offene Dose schaler Cola. Hier werden Filme gegeben für Menschen, die keine Filme mögen: Daddy Day Care, Charlie's Angels: Full Throttle, Terminator 3: Rise of the Machines, Bruce Almighty (brrr...) mit dem immer unappetitlicher werdenden Jim Carey, und anderer Auswurf des amerikanischen Kaugummiautomaten.

Auf der anderen Straßenseite hingegen tummeln sich frierende, aber fröhliche Punkrocker, etliche auch schon, wie ich, jenseits der magischen big three o und warten auf Einlaß, die Flasche Bier im braunen Packpapier in den bläulichen Händen. Heute abend bin ich (mal wieder) alleine hier; die soziale Bezugsgruppe ist nach knapp 4 1/2 Jahren Exilantentum einer zerfaserten Pferdedecke nicht unähnlich, und so gibt es eben diverse blanke Stellen - die Zahl jener Freunde, die freiwillig einen Samstagabend an eine Band geben würden, von der viele hier nicht mal gehört haben (und die, in Originalbesetzung, niemals in Australien getourt ist), kann man an einer Hand abzählen. An der Hand eines dieser X Files Aliens. Nachdem dieses einen Unfall im Sägewerk hatte. Ahem.

Jedenfalls wurde es einem ganz warm ums Herz, einmal nicht zum alten Eisen auf einem sog. "gig" zu gehören - in einem Land, in dem man mit 16 den Fühererschein machen darf, mit 17 aus der Schule ist, mit 20 oder 21 (Wehrpflicht ist nicht) aus der Uni und mit 30 möglichst sein eigenes Haus besitzt; in einem Land, in dem es "all ages" Konzerte gibt (alkoholfreie Nachmittagskonzerte, da alle Konzerte in alkoholverkaufenden Lokalitäten stattfinden und unter 18jährige dort nach 20.00 Uhr nicht hineindürfen) wie Inzest in adligen Familien; kurz: in einem Land, in dem ca. 25% der Bevölkerung unter 35 ist, kommt man sich bei Konzerten inzwischen vor wie Tante Hilde auf der Familienfeier. Ganz besonders natürlich bei Punkkonzerten, sind diese doch hier zu 99% Domäne amüsierwilliger weißer Mittelschichtbuben, die hinterher auch brav von Mami im Holden Senator abgeholt werden (das rührt u.a. auch von der hiesigen unseeligen Popularität aller So-Cal (oder auch Low-Cal) Bands und ihren geistfreien Spaßhymnen her, aber das nur nebenbei).

Nach Anstehen vor folgt bekanntermaßen das Anstehen in, aber bald hatte man sich mit Getränken versorgt und sah sich die Vorband an, MASSAPPEAL, die mit Rockatti- und -platitüden zu überzeugen wußten und dabei durchaus gelungen das Geräusch überfahrener Katzen wiedergaben. Eine halbe Stunde lang. Der Auftakt, das eingrooven, das Vorschmecken war also schon mal gelungen, man holte sich noch eine Dose des extrem nach Harn schmeckenden Tooheys New und harrte der Dinge, die dort kommen würden.

Würde die ROLLINS BAND doch mehr sein können als nur eine bessere Coverband, eine Bezeichnung die vorher von Herrn Henry Rollins freimütig zugeben wurde? Würde das Ganze doch ausarten in, wie die liebende Partnerin es einem lakonisch kopfschüttelnd mit auf den Weg gab, die ABBA Experience für Punks? Würden sie, kurz gesagt, rocken??

So steht man da, wartet, unterhält sich recht nett mit dem einen oder anderen Umherstehenden, bemerkt mit leisem Alarm, das viele es einem gleich tun wollen und, aufgrund anfälliger Hüftknochen, noch-Fahren-müssens und einer durch jahrelangen Konzerthabitus verursachten gewissen Lethargie, es "ruhig angehen lassen wollen heut’ abend"... und dann geht das Licht aus.

Die Mitglieder der ROLLINS BAND schlacksen auf die Bühne, greifen sich ihre Instrumente, junge Burschen mit gutgepflegten langen Haaren die so tun, als wären sie 'ne Matte. Sie winken freundlich ins Publikum, freuen sich offensichtlich hier zu sein, in Sydney, heute abend hier, live auf der Bühne, für uns, und schließlich kommt auch Herr Rollins, ab hier natürlich nur noch, wie es sich gehört, Henry genannt, auf die Bretter der METRO. Niemand kann Henry so schön spielen wie Herr Rollins - mit einem Blick, der zwischen konzentriert, kurzsichtig und Verstopfung hin und her miasmiert. Graue Haare, graues T-Shirt, graue cargo pants, das Mikrophon in der Hand wiegend, tigert er an den Rand der Bühne, man lächelt dem Nachbarn zu und hebt leise die Augenbraue als wollte man sagen: "Na, was das wohl wird..." - und auf einmal rollt ein tiefes Grummeln aus 800 Kehlen (natürlich ausverkauft) durch den Saal. Ein tiefes gutturales HENRY!!!!, ausgestoßen von durch Alkohol-, Tabak- und sonstigen Abusus viel zu lange malträtierten Kehlen; es poltern COME ON!!!!!'s, FUCKING YESSS!!!!!!'s und FUCKING BRING IT ON!!!!!!'s über kopfsteinpflasterartige Stimmbänder. Henry steht immer noch am Bühnenrand, stumm, nur sachte mit dem Kopf nickend, breitbeinig, mit der linken Schulter ins Publikum weisend, leise sich in den Knien wiegend, vorwärts, ruckwärts, vorwärts, rückwärts, ein bei genauerem Hinsehen latent gewalttätiges Lächeln zwischen den Blumenkohlohren.

Und dann ist man wieder 16. Genau wie damals, als man noch nicht biertrinkend am Tresen stand und die 587. Band seines Lebens betrachtete wie die sauer gewordenen Träume einer hoffnungsvolleren Vergangenheit, haut man seinem Nachbarn auf die Schulter und schreit ihn an: COME ON!!!! COME FUCKIN ON!!!!!, und man sieht in den Augen der eben noch zweifelnden Gesprächspartner den Widerschein des eigenen irrsinnigen Flackerns. Wie eine Welle vor Maroubra rollen die ersten 6, 7, 8 Reihen Richtung crash barrier, man ergibt sich der Masse und immer noch ist kein Ton erklungen, doch man weiß: das wird eine große Nacht, und man wird es am nächsten Tag bereuen.

Henry hebt den Arm, und TA-DA-TA, TA-DA-TA, TA-DA-TA, TA-DA-TA, stakkatieren die ersten Akkorde von "Rise Above" der ersten Reihe die Köpfe weg. And it's on. "Jealous cowards try to control / RISE ABOVE, we're gonna RISE ABOVE! / They distort what we say / RISE ABOVE, we're gonna RISE ABOVE! / Try and stop what we do / RISE ABOVE, we're gonna RISE ABOVE! / When they can't do it themselves / RISE ABOVE, we're gonna RISE ABOVE! / WE ARE TIRED OF YOUR ABUSE! TRY TO STOP US, IT'S NO USE!!" Die gesamte METRO wird, in toto, ca. 9756 Jahre jünger und jetzt wollen wir mal sehen, ob hier noch was geht.

Eineinhalb Stunden Hit auf Hit auf Hit, Pardon wird nicht gefordert und nicht gegeben, "Nervous Breakdown", "Police Story", "Room 13", "Annihilate This Week", bei "No Values" sah ich Menschen aus den Ohren bluten, "Gimmie Gimmie Gimmie" ("ONE TWO THREE FOUR..."), "Revenge", "TV Party"... "Here's a song from our later, more introspective phase," verächtelt Henry ins Mikro, die Bassmelodie von "Six Pack" setzt ein, und erwachsene Menschen versuchen sich vor sich selbst in Sicherheit zu bringen und dem eigenen 16jährigen zu entfliehen und wissen doch: es gibt kein Entkommen, da muß man jetzt durch, und der Saal slammt in die Höhe und schreit: "35 dollars and a six pack to my name / SIX PACK! / Spent the rest on beer so who's to blame / SIX PACK! / They say I'm fucked up all the time / SIX PACK!! / But I know they're a waste of time! / SIX PACK!!"...

So würde sich Hackfleisch anhören. Rohe und humorlose Musik, wie der Soundtrack zu einer miesen Kneipenschlägerei, und doch bleibt alles friedlich, wie es sich ja auch gehört. Wenn es sowas wie gewaltfreie Gewalt und aggressionslose Aggression gibt, dann in einem funktionierenden Pogo und/oder Mosh (das ist natürlich höchst diskussionswürdig - Frauen waren wenige zugegen und selbige hatten arg zu kämpfen). Gegen Ende werden erste Ausfallserscheinungen sichtbar, Männer stehen gegen die Wand gelehnt und ringen um Atem, einige beugen den Oberkörper nach vorne als wären sie gerade einen Marathon gelaufen, und ich bemerke zum ersten Mal mit Verwundern, das ich anscheined eine mittelstarke Nierenprellung erlitten habe - ich sehe den neben mir um Luft ringenden Mittdreißiger an, wir tauschen ein Backen-Aufblasen-Augenzwinkern aus und wissen, das wir uns morgen beschissen und alt fühlen werden, aber darauf ist jetzt gepfiffen. Es ist Zugabenzeit, und zur Ehre des kürzlich in den Punkrockhimmel gefahrenen Joey Ramone gibt es, na klar, die RAMONES: "Sheena is a Punk Rocker". Und dann ist es doch fast wie die ABBA Experience für Punks. Aber eben nur fast. GanzGanz großer Abend.

Hinterher, auf einer Welle von Adrenalin reitend wie Kelly Slater, geht man nach Hause, zurück in ein Leben voller Lohnarbeit, und der Arbeitskollegin ihr blödes Groove Armada und Massive Attack und Matchbox 20, und Wursttheken, und Parkplatzsuche. Man ist wieder 31. Und das ist irgendwie auch nicht schlecht.