10.7.03

RAZZIA hören am Strand

Manchmal gibt es Tage, an denen einem der Alltag vorkommt wie ein Traum. Ich mein jetzt nicht "Traum" im positiven, Möbelhaus-Katalog Sinn ("ein Traum von einer Einbauküche!"), oder im nachts schweißgebadet aufwachen, schreiend, das Kissen mit klammen Fingern umkrallend, Alptraumsinn (Saison 2002/3 des FC St. Pauli), sondern einfach "Traum" - diese bevorzugt nach dem Verzehr dreier Käseschnitten kurz vorm Zubettgehen auftretenden bizarren Schäume, in denen nichts zusammenpaßt, in denen der langverstorbene Großvater mit dem verhaßten Arbeitskollegen aus der Finanzabteilung Tango tanzt, während man eiskremessend auf einem aufblasbaren Krokodil im Ozean schwimmt und O SOLE MIO intoniert. Mit Roy Blacks Stimme. Diese Art Traum. Und das geht so:

Spätnachmittag, halb fünf. Man hat früher Feierabend gemacht und, lässig die Tasche schwenkend, flaniert man heimwärts, den milden Winterabend genießend. Irgendein altes Mixtape ist im Walkman, welches man frühmorgens im halbwachen Zustand aus dem Regal gekramt hat, und so lässt man es sich, musikuntermalt, wohlsein. Man biegt um die Ecke, marschiert fröhlich an den Läden seines Viertels vorbei, sieht Restaurants, Cafes, Zeitungsläden, Apotheken und Beauty Shops und beobachtet aus den Augenwinkeln ein paar Touristen, die trotz Winters in T-Shirts und kurzen Hosen umherspazieren. Das Meer blitzt träge zwischen den Häuserfassaden hervor und die Sonne verblutet langsam am Horizont. Das Leben ist gut, man hat alles im Griff. Nur irgendwas.... irgendwas stimmt nicht ganz. Irgendwas drängt mit Macht ins Bewußtsein und will gehört werden und man weiß nicht, was es ist, bis - bis einem auf einmal das Unterbewußtsein, nicht mal unhöflich, bestimmt auf die Schulter klopft und einem schlagartig klar wird, was es ist.

Man hat, ohne es zu merken, in den letzten 2 Minuten den Text des gerade im Walkman laufenden Liedes mitgesungen: "Krauts" von RAZZIA, von der 1989 erschienenen MENSCHEN ZU WASSER.

Und so singt man vor sich hin, mitten in Sydney, im Juli 2003: "Büro, das heißt im ganzen Land / Shellkalender an der Wand / Amaretto und Tabletten / Für die Schreibtischmarionetten / Wir wählen den SS-Mann Franz / Heil Dir im Siegerkranz / Du bist zum 100. Gedenk / Des Führers würdigstes Geschenk..."

Und auf einmal verschiebt sich die gesamte Realität um 90 Grad nach links und es ist, als blicke man durch zwei verschiedene übereinanderliegende Dias. Das Kleinhirn versucht krampfhaft, des Erlebten habhaft zu werden: "Die Ohren und das Unterbewußtsein sagen RAZZIA und das heißt Hamburger Wetter und U-Bahnfahren und große Pause und Demos und Flora-Konzerte und lange Nächte auf der Balduintreppe und Politdiskussionen und KitKat und ein permanentes Gefühl der Entfremdung. Die Augen und das Bewußtsein sagen SYDNEY und das heißt lauer Winterabend und Touristen in kurzen Hosen und Palmen und Strand und Ozean und Sonnenuntergang und Feierabend und laissez-faire."

Es nimmt einem den Atem, und man geht zum Strand, setzt sich hin, blinzelt in die letzten aortaroten Strahlen, versucht wiederzufinden, was man bis vor ca. 5 Minuten noch nonchalant als "inneres Gleichgewicht" bezeichnet hätte, und spult zurück...und zurück...und zurück....

Nach einer Weile hat man sich beruhigt und geht nach Hause. Die liebende Partnerin ist auch schon da, man sagt hallo, sie mustert einen kurz und wirft ein amüsiertes "Wie siehst du denn aus? Harter Tag heute?" in den Raum. Und man lächelt und sagt, ja, genau, weil man ja doch nicht erklären könnte, was man soeben lernte:

Manchmal ist Sydney wie Träumen nach einem halben Pfund Tilsiter.